In der Zeit der unbegreiflichen Geschehnisse

Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie

Text von Regina Fischer

Neun Jahre nach der letzten großen Buchleiterschau „ Zwischen göttlicher und menschlicher Komödie“, die der Kunstverein Pforzheim gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt im Reuchlinhaus zeigte, widmet die Stadt Pforzheim dem Künstler in diesem Frühjahr wieder eine Ausstellung.
Die Verbindung von Adolf Buchleiter (1929-2000) und Pforzheim geht bis auf das Jahr 1951 zurück, als Buchleiter zunächst als Student an die Kunst- und Werkschule kam, wo er bis 1955 studierte, danach als Assistent bei Prof. Wienert war und schließlich bis 1961 einen Lehrauftrag innehatte.
In diese Zeit fällt auch seine erste Einzelausstellung im Kunstverein Pforzheim.

Zwei Jahre später fand, noch in den Räumen des Industriehauses, die erste damals heftig diskutierte Ausstellung der „Gruppe 59“ statt, zu der neben Adolf Buchleiter auch Rainer Mürle und Hermann Stark gehörten. Weitere Gruppenausstellungen folgten.

Später beschreibt Adolf Buchleiter selbst im Vorwort zum Katalogbuch „Der stille Reichtum der Erinnerung“ die zehn Pforzheimer Jahre von 1951-1961 als prägende Zeit „voller Tatendrang“ … „Schaffenslust und Arbeitsfreude“.
Besonders war es der Anblick des kriegszerstörten Pforzheim, der sich unauslöschlich in die Erinnerung des Künstlers eingegraben hatte. Krieg, Zerstörung – ganz allgemein Not und Elend – die von Menschen selbst verschuldete Hölle auf Erden sind zu Buchleiters Generalthemen geworden.

Auch in der künstlerischen Szene Pforzheims hat Adolf Buchleiter gewichtige Spuren hinterlassen. Als Weggefährte und einflussreicher Künstlerfreund der Avantgardekünstler der Nachkriegsmoderne blieb er unvergessen. Arbeiten von seiner Hand finden sich in den öffentlichen Sammlungen der Stadt und des Enzkreises und in vielen privaten Sammlungen.

Im Unterschied zur damaligen Überblicksschau wurde die Werkauswahl diesmal stärker begrenzt. Ganz bewusst wurde ein inhaltlich eng geschlossener Themenkreis gewählt.

„Die Grundstimmung ist eher düster. Tief im Dunkeln liegen die Schattenreiche, die Abgründe für das Unwägbare. Der Schrecken, das Grauen, die Höllen: in den Bildern von heute – womöglich haben sie hier ihren Ursprung. Dagegen sieht man fast in jedem Bild etwas, was versöhnlich stimmt, sei es das Rot des Blütenblattes, das aus dem Dunkel hervorbricht, oder das Licht der Sterne, der helle Himmel über dem hohen Horizont, oder die Vögel, dunkel zwar, aber quirlig lebhaft in ihrem Flug. Lichtblicke und Hoffnungsschimmer gegen die Beklommenheit.“

Diese Zeilen Buchleiters aus dem oben genannten Katalog aus dem Jahr 1999 können als Grundlage der Ausstellungskonzeption verstanden werden.

Neben dem herausragenden Werkkomplex der letzten Schaffensjahre der Auseinandersetzung mit Dantes „Divina Commedia“  wurde mit der Serie „der Soldatenspiele“ die Thematik des Krieges und der Hölle auf Erden schon in den 60er und 70er Jahren aufgenommen. Der Werkkomplex der „Blumen der Nacht“ leitet über zur Faszination und dunklen Schönheit des Geheimnisvollen.

Versöhnlich endet der Ausstellungsparcours  mit einer großformatigen Zeichnung, die analog zu Dantes Irdischen Paradies den Betrachter in ein sonnendurchflutetes goldgelbes Blütenmeer eintauchen lässt.

Adolf Buchleiter „… und wimmeln, schau nur, auf der ganzen Fläche“  Dante, Inferno Canto 7, 1998 – 1999, 253 x 191 cm, Tusche, Farbstift auf Papier

Die Ausstellung umfasst im Wesentlichen Arbeiten der 90er Jahre.
Bewusst verzichtet wurde auf andere Werkgruppen aus dem vielseitigen Schaffen des Künstlers, wie beispielsweise Buchleiters ungewöhnliche Plastiken und Skulpturen, die Fotografien und den Bereich der Druckgrafik.

Gezielt erfolgte die Konzentration auf das Medium der Zeichnung und in Mischtechnik bearbeiteten Fotografien.
Adolf Buchleiter war ein herausragender Zeichner, sein zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel entwickelte sich ausgehend vom Punkt zur Linie.
Im sinnfälligen Gegensatz zu den teilweise gigantischen Formaten bis zu 5 Quadratmetern stehen die scheinbar unendlich repetierten kleinsten Einzelformen.

Adolf Buchleiter war ein sehr systematisch denkender und arbeitender Künstler.
Die Vorgehensweise aus der Wiederholung kleinster Einzelformen, den Mikrokosmen in monatelanger Arbeit ein Gesamtwerk – einen Makrokosmos zu entwickeln entsprach einer mathematisch analytischen Denkungsweise.
Mit Graphit- oder Farbstift, Kugelschreiber oder stark verdünnter Tusche formte er zentimeterkleine Zeichen. Buchleiter arbeitete diszipliniert, täglich, vielleicht wie besessen. Parallel zur Arbeit berechnete er die Zahl der Zeichen pro Zentimeter, Quadratmeter, pro Reihe, pro Blatt. Er errechnete die Zahl der Tagwerke, den Tag der Fertigstellung. Sechs bis acht Monate dauerte die Arbeit an einem der monumentalen Blätter.
Beispielhaft ist eine Notiz vom 4. Oktober 1998, auf der er zunächst den Beginn an der Arbeit des monumentalen Blattes „und wimmeln, schau nur auf der ganzen Fläche“ vermerkt.
Es folgen die Maßangaben zur Höhe von 253 cm und der Breite von 191 cm, sowie die Mitte bei 126,5 cm. Weiter nennt Buchleiter Papierart und verwendete Materialien, den Titel und noch mit Fragezeichen versehen den Hinweis auf Canto7 bezogen auf die Textstelle in Dantes Inferno. Die Seite schließt mit dem Datum der Fertigstellung am 16.Juni des folgenden Jahres also 1999. Auf der Rückseite sind unter dem Titel die Tagwerke an Einzelformen notiert und jeweils durchgestrichen. Die Aufzählung beginnt mit 151 und endet mit 1793 Zeichen.

 

Buchleiter zeichnete von links nach rechts in Linien, vergleichbar der Arbeitsweise eine Webstuhls oder einer Strickmaschine.

Die Anfangszeile liegt im oberen Drittel, von da aus wuchs das Motiv nach oben und nach unten.

Erstaunlicherweise ist auch bei den monumentalen Blättern von rund 5 Quadratmetern nirgendwo ein Bruch, eine Ansatzstelle bemerkbar. Auch dann nicht, wenn die Einzelzeichen im Verlauf des Blattes eine Metamorphose durchlaufen und sich, wie in der Zeichnung „Unter den Mauern der Stadt des Dis“ (Inf., Canto 8) von Menschenleibern zu Mauersteinen wandeln. Die anthropomorphen Figuren werden abstrakter bis hin zur rein geometrischen Form. Diese Transformation lässt an M.C. Escher denken. Inspiriert von der ornamentalen Kunst der maurischen Majoliken entwickelte Escher seine Metamorphosen, in denen sich Vögel zunehmend in Fische verwandeln oder Reptilien von der schematischen Konstruktionszeichnung zunehmend an Körperlichkeit und realistischer Präsenz gewinnen. Diese Verwandlungen vollziehen sich bei Escher entweder in einem Kreislauf oder einer ornamentalen Struktur folgend als vor… formales Phänomen. Ganz anders dagegen bei Buchleiter. Auf der formalen Ebene fällt auf, dass Buchleiter das Prinzip des all over wählt. Seine Zeichen erstrecken  sich von der unteren Kante des Blattes flächendeckend bis an die Ränder. Lediglich nach oben gibt es zuweilen eine Begrenzung in Form der extrem hoch angesetzten Horizontlinie. Andres wie bei Escher sind Buchleiters Formen niemals Spielerei, sondern immer inhaltlich motiviert. Seine Kunst ist nicht in erster Linie formal begründet sondern stets philosophisch geprägte Auseinandersetzung, eben mit Weltliteratur oder der schuldhaften Verstrickung menschlicher Existenz.

Voraussetzung ist neben der Akribie der Arbeitsweise ein enormes Vorstellungs- und Abstraktionsvermögen, um beispielsweise die Überschneidungen, der sich langsam verändernden Menschenfiguren vorausdenken zu können.

Quasi als Nebenprodukte entstanden die sogenannten Schmuddelblätter. Kleine Zettel zum Auflegen der Hand, für Fingerübungen, zum Aufwärmen vor dem eigentlichen Zeichenvorgang. Die Finger mussten zu Beginn geschmeidig gemacht werden, die Hand in Schwung kommen erst dann setzte die Arbeit am großen Format ein. Der eigentliche Arbeitsprozess war stark meditativ geprägt, die fortwährende Repetition setzt einen ruhigen Rhythmus voraus, ein Mitschwingen von Hand und Gedanken. Ein wesentliches Moment in der Kunst von Adolf Buchleiter spielt also die Zeit, genauer gesagt die Entschleunigung der Zeit. Die Forderung des Künstlers „Es müsste eine Kunst kommen, die mehr Zeit brauch“ entspricht seiner Sehnsucht nach Langsamkeit, der philosophisch geprägten Herangehensweise aber auch der Suche nach Allgemeingültigkeit. Dantes „Divina Commedia“ ist für Buchleiter die Metapher aller menschlichen Regungen. Für menschliche Nöte und Abgründe ebenso wie für Philosophie und Liebe als Prinzipien einer Hoffnung auf Erlösung.